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Was ist das Digitale an der Semiotik?

Die Beiträge hab ich unter dem Motto „digital semiotics“ gestartet. Aber bis jetzt ist das Digitale doch recht kurz gekommen. Warum soll Semiotik besondere Relevanz fürs Digitale haben? Dafür gibt es einige Gründe, sehr einleuchtende, wie ich hoffe.

1) Digitaltechnik ist Zeichenmanipulation

computerbrille - mit Semiotik das Digitale besser erkennen
Ohne Semiotik erkennt man den Code vor lauter Zeichen nicht

Alle Phänomene, die wir mit Digitalisierung verbinden, vereint, dass sie im Kern Zeichenmanipulation sind. Gemeint ist damit Zeichenveränderung ohne negativen, verschwörerischen Unterton. Egal ob Facebook und Instagram, Big Data Sammlung und Analyse, Vorschlagsalgorithmen von Google, Amazon und Netflix oder autonome Systeme wie Chatbots oder sich selbstschreibende Sportberichte. Sie alle speichern, analysieren und erzeugen Zeichen. Diese sind von und für Menschen gemacht und sie sollen von diesen wiederum interpretiert werden. Unter dem semiotisch nicht ganz korrekten Begriff „Symbolmanipulation“ ist das u.U. sogar Informatikern und Computerwissenschaftlern gebräuchlich. Dass hier nicht viel selbstverständlicher auf die Kompetenz von 150 Jahren modernen Nachdenkens über Zeichen zurückgegriffen wird, ist eigentlich verwunderlich. Als Data Analyst finden Sie einen Job bei Stepstone als Sign oder Symbol Analyst nicht.

2) Informatik ist Semiotik

Sicher eine provokante These. Sie wird aber plausibler, wenn man sich vor Augen führt, dass eine wichtige Fragestellung der Semiotik die Untersuchung des Übergangs von einem Zeichensystem in das nächste ist. Und genau die Gestaltung dieser Übergänge ist wiederum eine Schlüsseltätigkeit der Informatiker*innen. Sie kümmern sich z.B. um: Modellierung der sogenannten Realität in Daten- und Ablaufmodellen, Erschaffung und Normierung von entsprechenden Notationen, Beschreibung von Funktionen in Last- und Pflichtenheften oder Backlogs, Entwicklung und Dokumentation von Vorgehensmodellen, Entwicklung von Programmiersprachen verschiedener Ordnung, Entwicklung von Übersetzern und Compilern für den Übergang zwischen Programmier- bzw. Computersprachen, Ausgabe von Verarbeitungsergebnissen in unterschiedlichen Darstellungsformen und Medien, Schaffung von Eingabeschnittstellen unterschiedlicher Art.

All diese Aufgaben beschreiben Übergabe-Phänomene von einem Zeichensystem ins nächste. Wenn das nicht ein enormes Potenzial gegenseitiger Befruchtung aufzeigt, weiß ich es auch nicht. Dass dies bis jetzt nicht passiert ist, liegt sicher auf der einen Seite an der enormen Erfolgsgeschichte der Informatik. Auf der anderen Seite kommt es daher, dass sich Semiotiker*innen sich als klassische Geisteswissenschaftler begreifen und sich dem pragmatischen ingenieurswissenschaftlichen Ansatz der Informatik eher verschließen. Obwohl Semiotik besondere Relevanz für das Digitale hätte.

3) Wenn die Wirkungen semiotischer Art sind, dann ist es Semiotik

Diese Verbalhornung des Thomas Theorems soll darauf abzielen, dass die Wirkungen von Digitalisierung in unserem Alltag und in unserer Gesellschaft semiotischer Natur sind. Als Social Media aufkam, vermuteten Medienphilosophen wie Eric Qualman gleich eine Revolution. Auch das Cluetrain Mainfest postulierte unter der Parole „Märkte sind Gespräch“ die Disruption unserer Wirtschaft. Wenn man sich die heute wertvollsten Unternehmen der Welt anschaut, könnte man glatt glauben, sie hätten recht gehabt. Aber letztlich verdienen alle auf recht altmodische Weise ihr Geld. Entweder verkaufen sie uns Waren oder sie verkaufen unseren Händlern und Geldgebern Wissen über uns. Und das hat man schon seit dem Mittelalter so gemacht.

Social Media - sicher eine Semiotik des Digitalen
Kommunikation wird technischer bleibt aber zeichengebunden

Auch hat sich die viel beschworene Many-to-many-Kommunikation nicht wirklich in der Breite durchgesetzt. Facebook und YouTube werden mehr und mehr zu Massenmedien alter Prägung. Amazon und eBay sind inzwischen Online-Kaufhäusern. Nicht die von allen gepflegte Wikipedia verändert unsere Lern- und Wissenskultur, sondern die Rechercheergebnisse von Google. Auch scheinen Online und Social Media Technologien nicht die Macht aus den Händen Weniger in die Hände Vieler oder Aller zu verlagern. Die Bezos und Zuckerbergs sind die Rockefellers und Stanfords des beginnenden 21. Jahrhunderts.

Dahinter bleibt allerdings verborgen, welche Auswirkungen Digitalisierung wirklich hat. Sie sorgt dafür, dass unsere menschlichen Erkenntnis- und Kommunikationsweisen, unsere individuellen Welt- und Wertemodelle für die Speicherung und die Verarbeitung in binär elektronischer Form aufbereitet werden. Hier bleibt die kritisch distanzierte Reflektion hinter der Begeisterung für die Machtbarkeit und die praktischen Wirkungen weit zurück. Die besondere Relevanz der Semiotik fürs Digitale ist offensichtlich. Erst im Zusammenhang mit KI und Robotik werden z.B. Aspekte einer digitalen Ethik intensiver diskutiert. Doch schon konventionelle Symbolmanipulation hat weiterreichende Auswirkungen auf unsere Sozialität und unsere Welt. Beide waren immer schon Zeichen vermittelt. Also auch hier höchste Zeit für eine digitale Semiotik.

4) Aufmerksamkeitsökonomie 2.0 – 15 Sekunden sind keine Berühmtheit

Andy Warhol wird der Satz zu geschrieben, dass jeder seine 15 Minuten Berühmtheit anstrebt. Und schon Ende der 90er Jahren kam der Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie auf, der besagt, dass die menschliche Aufmerksamkeit ein knappes Gut ist. In Zeiten und Gesellschaften weitgehend gestillter Grundbedürfnisse neben Sinn und Erleben vielleicht sogar das knappste.

Heute erweist sich Multi-Tasking als Mythos. Hier sinkt die Verarbeitungskapazität eher, als dass sie steigt. Selbst die Verarbeitungsfähigkeiten hoch spezialisierter Digitalisten, wie sie z.B. Computerspieler sind, liegen nicht grundsätzlich über denen der Digital Immigrants. Wahrscheinlich übersteigen sie nichtmal wesentlich die vormoderner oder archaischer Menschen.

Dem gegenüber ist durch die Digitalisierung, durch die automatisierte Zeichenverarbeitung und -erzeugung, die Zahl der verfügbaren Zeichen gerade zu explodiert. Die Bibel oft der einzige Text, mit dem sich Menschen der Vorneuzeit auseinander gesetzt haben, umfasst eine knappe Million Wörter. Das sind in einen einfachen ASCII-Code übertragen weniger als 5 MB. In 60 Sekunden stehen uns im Internet jederzeit problemlos über 250 TB neue Inhalte zur Verfügung. Und selbst wenn wir nur das berücksichtigen, was wir in 60 Sekunden tatsächlich mittels DSL-Zugang herunterladen können, ist das immer noch 200 mal mehr als die Vorneuzeitler im Leben gelesen, interpretiert und diskutiert haben.

Und die automatisierte Verarbeitung der Zeichen durch Algorithmen oder KI ist eher eine Ausweitung des Problems als eine Lösung. Wie wir auf dieses Missverhältnis von Informationsangebot und Verarbeitungsvermögen individuell, gesellschaftlich, politisch und ökonomisch reagieren, ist eine zutiefst semiotische Frage.

5) Iconic Turn – der neue Analphabetismus

provokanter Finger - digital und semiotisch
Provokation um jeden Preis – Zeichen der Zeit

Ein letzter Effekt der Digitalisierung, der zweifellos semiotische Beachtung verdient, ist die verstärkte Visualisierung von Online Medien und Kommunikation. Das World Wide Web war zu Beginn eine rein textbasierte Technologie. Die Initialidee war die Verbindung von Texten mit der Hypertext Metalanguage. Mit der exponentiell gestiegenen Rechenleistung und der andauernden Auseinandersetzung mit Bildbeschreibungs- und -bearbeitungsalgorithmen hat sich das geändert. Computer oder Online Services sind auf faszinierende Art und Weise in der Lage, Bilder zu speichern, zu bearbeiten und vor allem auch autonom zu produzieren.

Aber auch wir normalen Nutzer haben Werkzeuge zur Bildbearbeitung in der Hand, die bis vor wenigen Jahren nur Profis hatten und bedienen konnten. Erst machen wir ein Handyvideo mit automatischer Restlichtverstärkung und Bildstabilisator. Dann schneiden und vertonen wir es in einer App und publizieren es daraufhin online im Medienportal. Das erzeugt eine ungeahnte Produktivität, die sicher auch künstlerisches Potential freisetzt, das früher verkümmert wäre. Aber wenn wir alle Online-Video-Künstler sind, wer soll sich all diese Videos ansehen?

Mehr Bilder

Dazu kommt noch das sich gerade die sozialen Medien vom Text abwenden. Waren die Startmedien des Mitmachwebs noch der Blog und Twitter, also Text pur. Beherrschen inzwischen Instagram, YouTube und TikTok die Szene. Und auch im Kommunikationskanal Nummer 1, in WhatsApp, werden immer mehr Bilder verschickt. “The medium is the message” postulierte der Medientheoretiker Marshall McLuhan schon Ende der 60er des vergangenen Jahrhunderts. Aber was ist die Botschaft der Bilderflut von Instagram & Co.? Die unsägliche Behauptung: „ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“, hat schon Zeitungsverlage, Redakteure und Didaktiker in die Irre geführt. So gilt heute die Bebilderung als das vermeintliche Erfolgsrezept im Kampf um die Aufmerksamkeit bzw. als Mittel unsere Aufnahmekapazitäten zu steigern. Statt eines Reiseberichts konsumiere ich in der gleichen Zeit hunderte Bilder von Reise Influencern. Die Modestrecke bei Pinterest löst die Lektüre der Vogue ab und so fort.

Medien zu jeder Zeit

Das gerade hippe Randphänomen PodCasts versucht mit gesprochenem und per mobilem Device konsumierbarem Text, die letzten Zeiten medial unproduktiverer Zeiten zu besetzen. So kann man schon verstehen, wo die Angst vor analphabetischer Dauerberieselung herkommt. Es ist da wohl einleuchtend, dass Semiotik eine besondere Relevanz für das Digitale hat. Das beginnt mit der notwendigen Erkenntnis, dass gerade Zuhören und Interpretieren Arbeit ist und Zeitressourcen braucht. Dann ist Semiotik im Gegensatz zu den Sprach- und Literaturwissenschaften medien- und wahrnehmungssinnübergreifend. Semiotik ist daher prädestiniert sich mit dem Phänomen der „Verbilderung“ auseinander zu setzen.

So hat die Semiotik auch schon längst herausgefunden, dass es Quatsch ist, zu behaupten, ein Bild würde per se mehr sagen als ein Wort. D.h. mehr – wie auch immer gemessenen – Inhalt kommunizieren können. Warum sonst hätte sich die Evolution der Kommunikation von den bild- und symbolgetragenen Formen hinzu den abstrakten buchstabenbasierten entwickelt? Weil sie ineffizient sind? Trotzdem bleibt der Iconic Turn der digitalen Kommunikation ein spannendes Untersuchungsfeld. Auf dem die Semiotik ihr Potenzial sicher gut einsetzen kann, wenn man sie lässt. Wir bei KMB| wollen und werden sicher unseren Beitrag zur Analyse, zum Verständnis und zur Gestaltung der Digitalisierung leisten. Begleiten Sie uns dabei!

Digital Semiotics. Digitalisierung besser verstanden.

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