Die Leistung von Zeichen und Semiotik.

Immer wenn ich andere Menschen, z.B. auf Kongressen, von Semiotik erzähle, fragen sie: „Zeichen, wirklich Zeichen?“ Für die allermeisten Menschen übertragen Zeichen nur eine realexistierende Wirklichkeit. Wie Zeichen funktionieren und was sie bedeuten scheint ihnen daher klar und unzweifelhaft. Die wahre Leistung von Zeichen und Semiotik bleibt ihnen verborgen.

Zeichen funktionieren doch einfach, oder?

Dead End. Zeichen funktionieren nicht einfach.
Irrweg: Zeichen funktionieren nicht einfach.

Manchmal räumen sie technische Defizite ein. Zeichen werden übersehen und führen zu Missverständnissen. Das sind dann eben schlechte oder falsch gewählte Zeichen. Vielleicht interessiert daher noch, wie man Zeichen entwickelt, die sofort oder in jeder Kultur richtig verstanden werden. Aber Zeichen scheinen kein wirklich brennendes Thema zu sein. Und Semiotik, die Wissenschaft der Zeichen, erst recht nicht.

Es gibt sogar Menschen, die den einen oder anderen Begriff aufgeschnappt haben, den sie mit Zeichen oder gar Zeichentheorie in Verbindung bringen. Z.B. Semantik – wichtiger als Semiotik. Icon – grafische, von Designer gemachte Zeichen. Eben solche, die jeder versteht, verstehen sollte. Symbol – Dinge mit viel und tiefer Bedeutung. Gerne in Abgrenzung zu einfachen „Zeichen“ gesehen.

Aber diese Wissensfetzen haben dann für diese Zeitgenossen in unserer heutigen digitalisierten, sich schnell verändernden, von der Wirtschaft beherrschten Welt, dasselbe Gewicht, als wenn man in der Lage ist, an einer Kirche den Unterschied zwischen Barock und Rokoko zu erklären oder bei einem Bürogebäude Neue Sachlichkeit von Brutalismus abgrenzen kann. Netter, bildungsbürgerlicher Smalltalk, aber völlig irrelevant für Politik, Management, Karriere oder gar die Rettung der Welt.

Die Relevanz der Semiotik für unsere digitale Zeit wird verkannt

Smartwatch - Digitale Zeichen auf engstem Raum
Smartwatch – Digitale Zeichen auf engstem Raum

Das ist in meinen Augen ein Fehler. Ein Fehler, der nicht für alle, aber möglicherweise für viele der Ereignisse und Wahrnehmungen verantwortlich ist, die uns heute beunruhigen und unglücklich machen. Damit ist die fehlende Einsicht in die Funktionsweise von Zeichen und in die Leistungsfähigkeit von Semiotik zwar nicht direkt verantwortlich für das Corona-Virus, das Schmelzen von Gletschern, Bevölkerungswanderungen, wachsende Einkommensunterschiede und prekäre Jobs und was Sie noch alles an aktuellen Weltproblemen bedrückt.

Aber fehlendes Verständnis von Semiotik und fehlende Anwendung von Semiotik ist vielfach die Ursache von Beunruhigung, Unglück und fehlgeschlagenem Umgang mit diesen Problemen. Eine gewagte These? Durchaus! Und ich bin sehr davon überzeugt. Auch wenn ich Sie nicht in den nächsten 2 – 3 Minuten vollständig von deren Richtigkeit überzeugen werde. Wenn Sie noch 3 – 4 Semiotik-Podcasts durchhalten, sehen Sie das vielleicht auch anders.

Aber vielleicht habe ich jetzt zumindest genügend Ihrer Aufmerksamkeit. Und kann in einem ersten Schritt die Vorstellung, es sei doch klar, wie Zeichen funktionieren und was sie im Alltag bedeuten und bewirken, zerstören. Und kann mit dieser Zerstörung die Basis legen, um Schritt für Schritt ein neues Verständnis von der Funktionsweise von Zeichen und der Leistung der Semiotik aufbauen.

Vielleicht kann ich sogar meine Semiotik-KollegInnen dazu bringen, eher gemeinsam für mehr Verständnis von Zeichen und Semiotik in Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft zu kämpfen und nicht gegeneinander in der gated community der Semiotik um das richtige Verständnis unserer Begriffe und um die kläglich fließenden Fördergelder und Drittmittel zu streiten.

Es geht um Wirkung, nicht um Bedeutung

Machen wir Schluss mit dem Gerede von Bedeutung. Bedeutung ist nicht das, was ein Zeichen ausmacht. Was lässt Sie eine Folge Ihrer Netflix-Lieblingsserien nach der anderen schauen? Was löst im Frühling der Duft der wieder erblühenden Pflanzen bei Ihnen aus? Warum kaufen Sie ein Smartphone einer bestimmten Marke? Warum fahren Sie vor einem Kindergarten 30, aber nicht in der Spielstraße, in der Sie wohnen? Wieso setzen Sie sich am liebsten zuhause in genau den einen Sessel? All das sind von Zeichen stimulierte Reaktionen.

Aber der Begriff Bedeutung hilft zum Verständnis dieser Zeichenprozesse kaum weiter. Versuchen Sie es ruhig. Das Konzept Bedeutung haben wir wahrscheinlich in der Schule beim Vokabellernen verinnerlicht. Und dann mehr oder weniger erfolgreich auf andere Bereiche übertragen (müssen), wo kurze sprachliche Übersetzung von anderen Zeichen wie Fremdwörtern, Diagrammen oder Formeln gefordert waren. Aber dieses einfache Frage-Antwort-Spiel hat schon in der Schule oft nicht funktioniert oder nicht befriedigt.

Zeichen und nur Zeichen steuern unsere Aufmerksamkeit

E-Mail-Eingang
Der E-Mail-Eingang verlangt nach Aufmerksamkeit

Zeichen machen etwas mit uns und wir mit ihnen. Sie sind die Werkzeuge der Weltbewältigung. Als erstes sind Zeichen Mittel der Aufmerksamkeitssteuerung: Das Schreien des Babys, der Fingerzeig, die Markierung auf einem Plan, das blinkende Licht u.s.w. Zeichen anderer steuern unsere Aufmerksamkeit.

Aber wir nutzen sie auch für uns selbst, um unsere Aufmerksamkeit zu organisieren: z. B. wenn wir aus dem Fenster schauen, ordnen wir die Welt in Elemente, die wir wiedererkennen und einsortieren können. Wir ordnen der Welt, dem was da permanent auf uns einströmt, Zeichen zu: Haus, Auto, Baum, Mensch, Katze. Wobei es meist gar nicht so weit kommt, dass wir zu sprachlichen Bedeutungen greifen müssen. Viel früher ist die Welt bereits durch Zeichen erfasst und unsere Aufmerksamkeit ist da, wo sie im Moment benötigt wird: Brauche ich einen Schirm zum Rausgehen? Kann ich die Kinder noch spielen sehen? Wo kommt der Krach her? Schön ist es hier, gut, dass wir vor 10 Jahren hierhin gezogen sind …

Dass dieser einfache, urmenschliche Vorgang aber durchaus genauerer wissenschaftlicher Betrachtung verdient, wird spätestens klar, wenn ich jetzt Begriffe: wie Reizüberflutung, Aufmerksamkeitsökonomie oder Achtsamkeit aufwerfe. In einer Welt, die sich ständig verändert und vieles nicht so ist, wie es scheint, ist es nützlich, kritisch zu reflektieren, wie Zeichen funktionieren. Gewinnen und Steuern von Aufmerksamkeit ist nur die erste Aufgabe von Zeichen.

Strukturiertes Nachdenken über die Funktion von Zeichen – Einstieg in die Semiotik

Nachdenken darüber, was Zeichen bei unserer Auseinandersetzung mit dem, was wir Realität nennen, macht, ist schon ein großer Schritt in Richtung Semiotik, in Richtung Zeichenwissenschaft. Durch Digitalisierung, also die Explosion maschinengemachter Zeichen (und Codes), und durch das, was das Akronym VUCA (volatile, uncertain, complex, ambiguous) umreißt, wird die Rolle von Zeichen und die Wichtigkeit des Nachdenkens über diese Rolle noch bedeutender. Denn unsere Welt besteht mehr und mehr aus Zeichen. Und wir interagieren nicht mit der Welt, sondern mit ihren Zeichen.  Jetzt, da ich hoffentlich Ihre Aufmerksamkeit dafür habe, wie wichtig die Funktion von Zeichen ist, lasse ich Sie ein wenig mit Ihren Gedanken dazu allein – bis zum nächsten Semiotik-Podcast. Wenn Sie das nicht aushalten, freue ich mich über Ihre Fragen, Kommentare, auch über Ihren Widerspruch.

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