Die digitale Welt besteht nur aus Zeichen.

Warum nutzt niemand die Wissenschaft der Zeichen, um sie besser zu verstehen

„Das ganze Universum ist durchdrungen von Zeichen, wenn es nicht sogar ausschließlich aus Zeichen besteht.“ Dies ist vielleicht eine der meistzitierten Fußnoten der Philosophiegeschichte (Charles S. Peirce: Collected Papers. CP 5.448 fn). Aber brauchen wir wirklich einen fast 200 Jahre alten (*1839) Philosophen, um das zu realisieren? Wir wachen auf vom und mit dem Handy. Es begrüßt uns mit Dutzenden Apps. Der Stream der Nachrichten aus unseren Social Media Communities oder wer es konservativer mag im Frühstücksfernsehen oder gar der gedruckten Tageszeitung – alles Zeichen. Spannender noch, diese werden immer häufiger automatisiert von Algorithmen erzeugt. Algorithmen sind, Sie ahnen es schon: Zeichen. Und zwar Zeichen, die andere Zeichen produzieren.

Zeichen sind überall - wir verzeichnen unsere Welt

Zeichen sind überall

Zeichen sind wirklich überall, auf dem Weg zur Arbeit: Verkehrszeichen oder Linienkennungen der U-Bahn. Selbst die schicke Espresso-Maschine im Büro würde ohne Zeichen und ihre korrekte Interpretation nichts von ihrem köstlichen Gebräu hergeben. Seit wir dank Corona immer weniger unter Menschen dürfen und hinter Bildschirmen bleiben, wird noch deutlicher: wir nehmen die Welt nicht wahr wie sie ist, sondern wie sie uns über Zeichen vermittelt wird. Aber wo kommen die Zeichen her? Und wie und wieso verstehen wir sie, wenn wir sie verstehen? Genau darum kümmert sich Semiotik, oder englisch Semiotics, die Wissenschaft der Zeichen.

Die „Verzeichnung“ (cf. Eschbach 2015), die Fähigkeit oder das Bedürfnis, Welt in Zeichen zu stanzen, ist wahrscheinlich das, was Menschen zu Menschen macht. Bleiben wir einen kurzen Moment bei Corona. Inzwischen haben wir alle schon hundertfach ein Bild des Corona-Virus gesehen, mit den knubbeligen Antennen auf einer dicken Kugel. Aber das ist nicht wirklich das Virus, es ist ein Zeichen. Mehr oder weniger entstanden auf Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnissen, aber mehr noch entstanden aus dem tiefen menschlichen Bedürfnis die Welt begreifen zu können. Wenn wir das Böse nicht mehr durch Verschweigen bannen können (… der, dessen Name nicht genannt werden darf …), brauchen wir ein Bild der Dämonen. Auch die politisch so wichtigen Inzidenz-Werte sind nicht gott- oder naturgegeben, es sind Zeichen. Es sind Verdichtungen komplexer, schwer zu vermittelnder Sachverhalte. Zeichen, die in einem Wechselspiel aus wissenschaftlichen Ergebnissen und Thesen sowie praktischen, politischen und publizistischen Vereinfachungen ins öffentliche Bewusstsein kommen. Manche kommen gar nicht so weit, manche sind kurzlebig, manche wie das Reden von der „2. Welle“ erleben ein historisches Revival.

Autofahrer: gut oder böse? Die Wirklichkeit ist nicht, was sie scheint

Mercedes-Stern. Zeichen für MobilitätAber wenden wir uns doch wieder dem alltäglichen Weg zur und von der Arbeit zu: selbst Autofahrer oder Radfahrer bzw. heute besser Autofahrer*in und Radfahrer*in sind nicht einfach objektiv vorhandene Menschen, die sich die Straße mehr schlecht als recht teilen. Auch diese Worte sind Zeichen. Mit verschiedenen möglichen Interpretationen, denn es ist gar nicht so klar, was Autofahrer denn bedeutet. Ist es der Killer, der umgeht auf Deutschlands Straßen, der mehr Tode zu verantworten hat als alle Mörder und Totschläger zusammen? Ist er vielmehr die Cash Cow des Staatshaushalts, der mit seinen Abgaben nicht nur seine Straßen, sondern viele andere staatliche Aktivitäten bezahlen muss? Ist er die Stütze der deutschen Wirtschaft, ohne den es Hundertausende von Arbeitsplätzen nicht gäbe und wir alle hungern müssten? Oder ist er der durch die Pendlerpauschale sogar staatlich subventionierte Umweltzerstörer? Und ist der Autofahrer böser als der/die/das Autofahrer*in? Sie haben längst gemerkt, worauf das hinaus läuft. Auch alle unsere wichtigen alltäglichen und politischen Begriffe sind Zeichen, die prägen, wie wir unsere Welt sehen. In den Feuilletons der Qualitätspresse hat sich dafür neuerdings „Narrativ“ etabliert – als Zeichen über Zeichen. Welche Geschichte wird über einen Gegenstand oder Sachverhalt erzählt? Wer hat die Geschichte erfunden und wer sie populär gemacht? Wer schafft es sein Narrativ durchzubekommen? In der Welt von Marketing und Social Media heißt das seit längerem Story-Telling. Etwas aus der Mode gekommen ist dagegen das „Agenda-Setting“ – zumindest etwas so zu benennen. Sie glauben jetzt sicher, den Unterschied zwischen Narrativ, Story-Telling und Agenda-Setting rauszufinden, ist nur was für Bachelor- oder Master-Thesen der Publizistik oder des Media-Managements. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

Believe in Sharing - Aber wir verstehen uns doch

Zeichen sind überall und daher meist unauffällig. Und doch funktionieren sie meistens. Wir wissen, was sie bedeuten. Sie helfen uns bei der Orientierung. Sie regen unsere Fantasie an. Wenn sie als Netflix-Serie daherkommen, machen sie uns richtig Freude. Zeichen machen einen super Job. Denn der „Believe in Sharing“, wie es der Zeichentheoretiker David Sless formuliert hat (Sless 1986), der Glaube, dass wir die Bedeutung der Zeichen teilen, ist eine wichtige soziale und zugleich psychologische Eigenschaft von Zeichen.

Handzeichen. Aber was ist deine Bedeutung?

Aber dieser Glaube kann täuschen. Und die Ursache kleiner und größerer Missverständnisse und Konflikte werden. Und überraschender Weise sinkt mit der rasant anwachsenden Zahl von Zeichen in unserer Umwelt – Stichworte Digitalisierung und Aufmerksamkeitsökonomie – die Bereitschaft und die Fähigkeit dieses Problem zu erkennen und anzuerkennen. Es ist immer der andere, der in seiner Blase lebt und die richtige Bedeutung nicht kennt. Stimmt natürlich, das Problem ist so alt wie die Menschheit (cf. Matthäus 7:3). Aber durch die digitalen Technologien wächst die Zahl der Zeichen, die uns umgeben und gleichzeitig verändert sich unsere Umwelt und damit die sogenannte Realität immer schneller, so dass eine Haltung: „ich weiß schon, was die Zeichen bedeuten“ zumindest kritisch hinterfragt werden sollte.

Aber wir Menschen können nur mit einem begrenzten Input von außen klarkommen. Wenn es zu viel wird, schalten wir ab und versorgen uns lieber mit Informationen von Innen – da wissen wir, was wir haben. Die Neurophysiologie hat längst herausgefunden, dass die Zahl der internen Vernetzungen im Gehirn die Zahl der Synapsen, die überhaupt nur Impulse von außen aufnehmen können, um das Vieltausendfache übersteigt. D.h. wir leben gedanklich tatsächlich wie es Leibniz vor über 300 Jahre oder der radikale Konstruktivismus vor knapp 50 Jahren wieder postuliert haben, eher in unserer eigenen Welt als in einer Außenwelt.

Bleiben Sie dran. Semiotik ist die Wissenschaft der Zeichen

Und mit diesen spannenden und wichtigen Zusammenhängen befasst sich seit gut 150 Jahren – seit z.B. der oben zitierte Charles S. Peirce geforscht und gelehrt hat – die Semiotik, die Wissenschaft von den Zeichen. Sie fragen sich jetzt vielleicht, warum Sie bis jetzt so wenig – oder gar nichts – von Semiotik gehört haben – zumindest nicht in Deutschland. Nun das ist eine andere Geschichte, die mit wissenschaftlichen Institutionen und ihrer Macht, aber auch kulturellen Denk- und Ausbildungstraditionen zu tun hat. Semiotik ist u.U. der Thriller unter den Wissenschaften, in kleinen Dosen: „Du kannst nicht nicht-kommunizieren“, „Der Gebrauch bestimmt die Bedeutung“, „Gehört ist nicht verstanden …“ jagt sie uns wohligen Schauer über den Rücken, aber eigentlich halten wir uns lieber an eindeutige Statistiken, Balkendiagramme, Reiz-Reaktions-Muster, vereinfachende Kommunikationsmodelle und unmissverständliche Bedeutungswörterbücher.

Wenn Sie jetzt mehr über die Welt der Zeichen, die Welt voller Zeichen und was das in der digitalen Welt mit uns macht, erfahren wollen. Und vor allem welchen hilfreichen Beitrag die Semiotik, insbesondere in ihrer internationalen und digitalen Ausprägung Digital Semiotics, leisten kann, dann sind Sie hier genau richtig und sollten dranbleiben.